Sven Bergelt (DE), Tom Castinel (FR), Pâle Mâle (FR), Peggy Pehl (DE), Ian Richards (GB)
Das Künstleraustauschprojekt exchange@2015.le widmete sich zum Jubiläum 1.000 Jahre Leipzig den Partnerstädten Birmingham und Lyon. Fragend und stimulierend untersuchten die Stipendiaten Parallelen, Ungleichheiten und Nuancen zwischen und in den drei Städten. Diese Abschlussausstellung zeigt neue Werke von vier Künstlern und einer Künstlerin zu Stadtumbau und Erinnerung, Leben mit HIV, im Alltag verborgenen Erfindungsreichtum und alltäglichen Mythen.
During the anniversary celebration 1,000 Years Leipzig, the artist exchange project exchange@2015.le explored Leipzig's sister cities Birmingham and Lyon. The selected artists inquisitively and provocatively examined the parallels, disparities and nuances of the three cities. This concluding exhibition shows new works from five artists dealing with urban renewal and remembrance, life with HIV, the inventiveness concealed in everyday life and commonplace myths.
Sven Bergelt (DE)
Der Leipziger Konzeptkünstler Sven Bergelt hielt sich 2015 für drei Monate in Birmingham (GB) auf und beschäftigte sich mit der dortigen architektonischen Stadtentwicklung, die sich wesent- lich schneller als in Leipzig vollzieht. Exemplarisch steht für ihn dafür der Abbruch der früheren Stadtbibliothek: für Einige ein herausragendes Beispiel des britischen Architekturstils des Brutalismus, für Andere wie Prinz Charles »ein Ort, an dem Bücher eingeäschert werden statt aufbewahrt«. In Frottagen von der Fassade der Bibliothek sicherte Sven Bergelt Spuren, formte diese zu visuellen Eindrücken und archivierte Verschwindendes. Die Frottage aus 96 DIN-A2-Bögen hat er in einem unikaten Künstlerbuch gebunden und stellt damit einen Bezug zur ursprünglichen Bestimmung der Birmingham Central Library her. Das Künstlerbuch präsentiert er gemeinsam mit weiteren Referenzstücken auf diesen verschwindenden Teil Architekturgeschichte: eine großformatige Frottage, eine Fotografie, eine dreidimensionale Fassadennachbildung, eine Gedenktafel mit dem oben erwähnten Zitat sowie den aktuellen Blick zu den Abbrucharbeiten via Webcam und fragt nach der Rolle von Identität und Geschichtsbewusstsein in der durch stetige urbane Transformation geprägten Stadt.
Tom Castinel (FR)
Die Collagen, Videos und Installationen des französischen Künstlers Tom Castinel entspringen den Welten des Tanzes und der Musik. Die von ihm geschaffenen Dinge sind weniger auratische Werke als Gebrauchsobjekte für seine Performances, die auch mal spontan, vergänglich, unbemerkt im Atelier stattfinden. Zu Beginn seines Stipendienaufenthalts in Leipzig fehlte Castinel seine in Lyon verbliebene Objektsammlung als Nährboden seines Schaffens, weshalb er sich entschloss, die hier zu sehende Sammlung an schwarzen Konsumartikeln, Billigdekor und Haushaltsgeräten zusammenzutragen: Alles Waren, denen eine sehr spezielle Funktion eingeschrieben wurde und die stets neue Bedürfnisse wecken sollen. In einer Zahl von auf Video gebannten Minimal-Choreografien entlockt Castinel diesen oft belächelten Wegwerfdingen ungeahnte Handlungsoptionen zwischen Nonsens und Abstraktion, die hier in einem Regal des HALLE-14-Studios gleich einer Partitur für weitere mögliche Variationen präsentiert werden. Zwischen den Dingen platziert der Künstler Grafiken, die Logos verschiedener Label und Clubs des Techno ornamental verfremden. Castinels an heute fast vergessenen Strategien der Avantgarde geschulte Kunstauffassung ist eine Einladung an den Betrachter, nichts als gegeben zu betrachten und mittels Absurden und Unsinnigen eigene Fantasien aus Alltagsmustern heraus zu entwickeln.
Pâle Mâle (FR)
Die Künstlergruppe Pâle Mâle entstand aus der Zusammenarbeit zwischen Tom Castinel und Antonin Horquin am postavantgardistischen Drama »Centrale Vapeur - Dampfbügelstation«, an dem beide während Castinels Residenz in Leipzig arbeiteten. Dieses Literaturprojekt verknüpft verschiedene Schreibstile, Rhythmen und Kompositionen und zeigt in Wort und Bild die Probleme und Sorgen des freundlichen Duos Körper 1 und Körper 2. Kurzen Dialogen zwischen den beiden Protagonisten sind Gedichte und ein Katalog von Konsumartikeln entgegengesetzt. Jetzt sind sind Körper 1 und 2 dem Drama entsprungen und erscheinen in neun Videoarbeiten. Verspielt, authentisch, mitunter absurd, aber nie zynisch inszenieren Pâle Mâle darin Alltagsgegenstände und Berufsgruppen und erkunden zugleich neue Handlungsspielräume. Durch die Langsamkeit der Bewegungen, die fehlenden Schnitte und die fast synchrone Ausführung entfaltet sich ein meditativer Sog.
Peggy Pehl (DE)
Die Leipziger Künstlerin Peggy Pehl unterzieht vorgefundenen Bildern in ihrer Kunst vielfachen Umwandlungsprozessen und verleibt sich so Fremdes ein. Überhaupt ist der Blick auf vermeintlich Unbekanntes und Exotisches Motiv ihres Schaffens. Aus einer Publikation mit Abbildungen aztekischer Figuren hat sie drei Motive entnommen und wieder auf Originalgröße hochkopiert und diese Kopien auf dreidimensionale Gipsremakes aufgezogen. Diese Remakes wurden wiederum Vorlage für Abbildungen, die Pehl auf Textilien (Jet Tex) übertrug, die anschließend mit einer farbigen Pastellschicht überzogen wurden. Wie Standarten hängen sie jetzt an Bambusstangen, die nicht aus asiatischen Wäldern, sondern aus dem Garten hinter Pehls temporären Wohnsitz in Lyon stammen. Diese Stangen wurden mit einer Haut aus Pappmaschee überzogen und dunkelgrün gefasst, das Chlorophyll gewissermaßen konserviert. Die Stangen werden mit weiteren verkunsteten Alltagsobjekten, zwei Steinen und einer Flasche komponiert. Die dominanten Lichtschalter und Steckdosen des Kunstraumes wurden Katalysator, Angelpunkt und Anker spontaner Tonskulpturen. Ein Kreis aus Tonstaub deutet die Prozesshaftigkeit von Pehls Kunstschaffen an.
Ian Richards (GB)
Die recherchebasierten Arbeiten des britischen Künstlers sind sozial engagiert und von wissenschaftlichen Methoden inspiriert. Seine Grafiken und Textbotschaften platziert er in öffentlich zugänglichen Räumen, mal als Auftragsarbeit, mal als klandestine Intervention. Während seiner Residenz in Leipzig interviewte er Menschen, die– meist unauffällig– mit dem HI-Virus leben und stellte deren Erfahrungen in Beziehung zu Betroffenen in Birmingham und der ganzen Welt. Aus der Kontroverse über diese Krankheit, die jeder zu kennen meint, das Wissen aber eher von Ängsten beherrscht als von Erfahrungen unterfüttert ist, kristallisieren sich viele Fragen unseres Selbstverständnisses um Sexualität, Aufklärung, Moral, Stigmatisierung und Schuld. In Gesprächen und Dokumenten Entdecktes verdichtet Richards in Textarbeiten, die er im Alltag und der Öffentlichkeit platziert. Auf den Toiletten der HALLE 14 finden sich Gedanken von Personen nach der HIV-Diagnose: »Meine Frau bringt mich um« (Leipzig, 2008) und »Hoffentlich stirbt mein Mann zuerst« (Leipzig, 2009). Auf der Handseife steht »Undetectable«, der medizinische Begriff für HIV-Infizierte, die mittels moderner Medikamente soweit behandelt wurden, dass der Virus nicht nachweisbar ist, also ein fast normales Leben mit der Krankheit führen. Auf der Plakatwand vor der Galerie Jochen Hempel finden sich individuelle Beschreibungen des Virus. Im Video »Undetectable | detectable: Don’t die of ignorance« behielt Richards nur die Untertitel eines Informationsfilms von 1986 bei, die die Psychologie eines apokalyptisches Bildes von Aids aufzeigen. Irving Gordons Song-Klassiker »Unforgettable« wird zur Hymne auf die Unnachweisbarkeit. Eine Wandarbeit stellt den binären Charakter der HIV-Diagnose heraus, wie die Lostrommel schließlich über Glück und Unglück des Spielers entscheidet.
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