SCHICHTWECHSEL
Mit dem Künstlerduo Empfangshalle (München), Beate Engl (München), Philipp Fritzsche (Leipzig), Matthias Seifert (Chemnitz/Weimar).
Was siehst du, wenn du die Augen schließt? Woran erinnerst du dich? Welche Bilder entstehen in deinem Kopf, wenn du an Heimat denkst? Was ist das: Heimat? Wie sieht deine Heimat aus? Kannst du sie abbilden– auf nur einem einzigen Photo– und kannst du darauf die Gefühle zeigen, die du mit Heimat verbindest? „Heimat“ kann man nicht einfach anfassen oder abbilden. „Heimat“ ist ein Gefühl, das sich zusammensetzt aus unterschiedlichsten Stimmungen, Erinnerungen an Erlebtes und Hoffnungen auf ein glückliches Leben. Erst wenn dieses Gefühl mit einem Ausschnitt der realen Welt zur Deckung gebracht ist, kann ein Bild– ein „Heimatbild“ - entstehen.
Ein umfunktioniertes Müllfahrzeug, das während des Leipziger Rundgangs am 01.05.2004 besucht werden konnte, wurde vom Künstlerduo Empfangshalle (Corbinian Böhm und Michael Gruber aus München) als mobiler Ausstellungsraum genutzt. Es ist Teil der Arbeit „Woher Kollege Wohin Kollege“, einem Münchner Kunst-am-Bau-Projekt mitten aus der Gesellschaft: Jeden Tag schwärmen die Müllfahrzeuge aus, um auf verzweigten Routen durch die Stadt ihre Arbeit zu verrichten. Einzelne Müllmänner haben sich, mit einem zum Wohnmobil umgebauten Müllauto, zu Zielen in ganz Europa aufgemacht– einer nach dem anderen - um ihr persönliches „Heimatbild mit Müllauto“ zu fotografieren. Ein einziges Photo, auf dem immer auch das Müllauto zu sehen sein musste, sollte alles sagen, ihre Geschichte erzählen, alle Fragen beantworten. Diese Fotos wurden als Plakate an jenen Müllautos angebracht, mit denen die Kollegen täglich arbeiten und erzählen als mobile Ausstellung ihre Geschichten den Bürgern. 28 Photos erzählen 28 Geschichten von 28 Mitarbeitern, die bereit waren, in ihrem Urlaub an dem Kunstprojekt teilzunehmen. Während das Müllauto ständig unterwegs ist, blieben sieben Heimatbilder und der Dokumentarfilm „Ein Gefühl von Heimat“ (82min) in der HALLE 14. Er begleitet drei der Müllfahrer auf ihrer Fahrt in die Heimat: nach München-Neuperlach, in die Türkei und nach Ghana– ist also im besten Sinne ein Heimatfilm.
Auf einem der Wagen fährt Andreas Kralik als Lader. Sein Heimatbild zeigt den Balkon seiner Wohnung in einem Siebziger-Jahre-Bau in München-Neuperlach. Er steht seitlich an die Brüstung gelehnt und schaut hinaus ins Grüne. Neben ihm schwebt fast schwerelos ein Vogelhäuschen.
Auch Marc Provencal ist Lader. Sein Markenzeichen bei der Arbeit ist ein Tirolerhut. Auf seinem Heimatbild steht er umgeben von mehr als vierzig Verwandten und Freunden auf einem sandigen Platz vor einer Bananenplantage im Landesinneren von Ghana. Ein anderer Wagen trägt das Heimatbild von Dundar Dursun. Er ist Platzwart auf einem der Betriebshöfe des Münchner Abfallbetriebes. Sein Bild zeigt ihn an einem kleinen Tisch sitzend auf dem frisch gereinigten Bürgersteig vor einem Café in einem türkischen Dorf.
Diese drei Protagonisten begleitet der Film auf der Suche nach ihrem Heimatbild, beobachtet wie und warum genau diese Bilder entstehen. Die drei Männer erzählen ihre Geschichten: von Erinnerungen aus der Kindheit, von Träumen und Sehnsüchten und von ihrer Hoffnung auf ein glückliches und behütetes Leben. Sie schildern Farben, Gerüche und Gefühle. Und im Erzählen ihrer Geschichten machen sie sich auch auf eine innere Reise an den Ort, den sie Heimat nennen.
Andreas Kralik ist ganz in der Gegenwart verankert. Er kann sich keinen besseren Ort vorstellen als Neuperlach, einen Münchner Stadtteil, der wegen der Bausünden der 60er und 70er Jahre einen zweifelhaften Ruf genießt. Hier ist er aufgewachsen. Hier lebt er mit Frau, vier Töchtern und einem Hund. Hier hat er alles, was er braucht: einen Park vor der Tür, ein großes Einkaufszentrum, ein Schwimmbad und einen Biergarten. Mehr will er nicht. Solange es seiner Familie gut geht, ist die Welt in Ordnung.
Dundar Dursun ist Türke, geboren und aufgewachsen in Istanbul. Mit 15 ist er nach Deutschland gekommen. Das ist jetzt 25 Jahre her. Zusammen mit Frau, 17-jährigem Sohn und 16-jähriger Tochter lebt er in einer kleinen Wohnung in München-Kieferngarten. Bevor er aufbrechen konnte, um sein Heimatphoto zu machen, musste er noch seinen Sohn verheiraten. Während des letzten Türkei-Urlaubes hat er eine 16-jährige geschwängert, und da gab es keine Alternative. An seine Kindheit in Istanbul erinnert sich Dundar nur ungern, die Zeiten waren hart damals, aber Akcay, ein kleines Fischerdorf im Süden der Türkei hat es ihm angetan. Hier hat er eine Wohnung gekauft, hier fühlt er sich zuhause und hier will er einmal seinen Lebensabend verbringen. Leider machen seine Kinder und seine Frau nicht mit. Die können sich ein Leben in einem türkischen Dorf, das von ehemaligen Gastarbeitern geprägt ist, nicht vorstellen. Er selbst aber gibt die Hoffnung nicht auf. Das kleine Café am Dorfplatz ist der einzige Ort, an dem er wirklich glücklich ist. Seine Heimat liegt in der Zukunft.
Marc Provencal kommt aus Ghana. Seine deutsche Frau Josefa hat zwei Söhne mit in die Ehe gebracht, die ihn von Anfang an als Vater akzeptierten und liebten. Die ältere der beiden gemeinsamen Töchter ist mit 16 an Leukämie gestorben. Seit sie auf einem Münchner Friedhof begraben liegt, weiß Marc, dass er hierher gehört. Aber sein Herz hängt auch an Ghana, an seinem Vater-Haus in Accra, wo er aufgewachsen ist und ganz besonders an dem Ort, wo er geboren wurde und an seiner Mutter, von der er im Alter von vier Jahren getrennt wurde, die er seit 27 Jahren nicht gesehen hat und von der er nicht weiß, ob sie noch lebt. Seine Heimatreise führt ihn zurück in die Vergangenheit, in seine früheste Kindheit.
Am Ende der parallel geschnittenen Episoden aus dem Leben und von den Reisen der drei Hauptfiguren, werden die drei Heimatfotos gemacht, und es erschließt sich jedes Detail. Jede Kleinigkeit bekommt Bedeutung und wird Teil der Lebensgeschichten von Andreas, Dundar und Marc, von drei einfachen Münchner Müllmännern unterschiedlicher Herkunft.
Die Wippe ist gebaut aus einer Sitzreihe des Münchener Olympiastadions, die Sitzschalen sind verbunden mit der Olympiade 1972 in München, dem Versuch der „heiteren Spiele“, mit allem, was bis heute mit dieser Olympiade verbunden wird und allem, was damals und seither geschehen ist. Sie sind aufgeladen mit dem olympischen Gedanken, der sich im spielerischen Kräftemessen über nationale und geschichtliche Differenzen hinwegsetzt. Sie sollen das Publikum weiterhin aufnehmen, ihm aber eine neue Qualität des Betrachtens und des Agierens ermöglichen. Wie im Sportstadion sitzt man nebeneinander und blickt in die gleiche Richtung. Die Wippen wirken wie echte Sportgeräte, doch spielen nicht zwei Mannschaften gegeneinander. Wie sollte eine die andere besiegen, wenn Sinn und Spaß doch in der fortwährenden rhythmischen Bewegung liegen? Die Wippen wirken magnetisch auf die Passanten, auf ihnen werden sie zum wogenden Publikum: Nur so kann Balance gefunden werden. Die Wippen werden zu Kommunikationsgeräten, bieten dem Einzelnen die Möglichkeit, sich in einer für ihn sonst nicht denkbaren Nachbarschaft zu positionieren, ohne an realpolitische Grenzen und Zwänge zu stoßen. Im öffentlichen Rahmen besetzt das Publikum das Gerät in zufälligen Kombinationen. Damit wird es „aufgeladen“ durch die Personen, einerseits real und körperlich, andererseits gedanklich mit deren Biografien, Geschichten und Ansichten.
Wie viele Installationen der Künstlerin Beate Engl, kann das Objekt „Brotzeittisch“ betreten, berührt, bespielt und benutzt werden. Ursprünglich im Außenraum des Botanischen Gartens in München aufgestellt und durch die Stiftung Federkiel ermöglicht, lud dieser mobile Tisch schon die Gärtner zu ihrer Brotzeit ein und stand nun den Arbeitern der Baumwollspinnerei in ihrer Pause oder Besuchern der Ausstellung zur Verfügung.
Auf der Gebäudespitze der HALLE 14 flattert eine von unbekannter Hand auf Halbmast gehisste Arbeiterfahne. Sie ist neben dem „Tag der Arbeit“ gedanklicher Ausgangspunkt für die Soundinstallation von Beate Engl, deren Grundlage eine Rede Rosa Luxemburgs vom 27.05.1913 in Leipzig-Plagwitz ist.
Beate Engl modifizierte diese Rede an die „Proletariermassen“ zu einer Ansprache über den globalisierten Kunstbetrieb. Hier ein Auszug aus Rosa Luxemburg transformed - Der globale Kunstmarkt: Wir leben in einer merkwürdigen Zeit, in der die Aufmerksamkeit der künstlerisch Tätigen durch ein ganz spezielles Gebiet des öffentlichen Lebens in steigendem Maße in Anspruch genommen wird; dies Gebiet ist der internationale Kunstbetrieb. Für den Begriff und geistigen Horizont des Durchschnittsspießers gehört der internationale Kunstbetrieb zu jenem Abteil der Morgenzeitung, das er beim Morgenkaffee liest zur Zerstreuung seiner Sorgen oder von dem Gekeife seiner besseren Hälfte. Für die künstlerisch Tätigen dagegen ist der internationale Kunstbetrieb tief ernst und äußerst wichtig.
Es ist nicht immer so gewesen. Wenn man das geistige Leben der Künstlerschaft in den letzten Jahrzehnten verfolgt, so kann man förmlich den Puls dieses geistigen Lebens fühlen und beobachten, wie von Jahr zu Jahr bei der Künstlerschaft die Aufmerksamkeit für den internationalen Kunstbetrieb wächst. Trotzdem ist es noch immer nicht genug, es muss dahin gebracht werden, dass jede Künstlerin und jeder Künstler verstehen lernt, dass es gilt, mit derselben Energie, Aufmerksamkeit und Leidenschaft wie die Fragen der lokalen Kunstszene alle Geschehnisse der globalisierten Kunst zu verfolgen. Jede Kulturproduzentin und jeder Kulturproduzent müssen sich heute sagen, es geschieht nichts im internationalen Kunstbetrieb, was nicht die eigensten Interessen der Kulturproduktion berührt. Wenn in Südafrika die Johannesburg Biennale zur neuen Spielstätte globalen Kunsttourismus’ wird, wenn zur Istanbul Biennale weitere in Sharjah und Tirana hinzukommen, wenn in Brasilien die Sao Paolo Biennale mit amerikanischen und internationalen Kunstevents konkurriert, in allen Fällen müssen sich die Künstlerinnen und die Künstler sagen, um eure Sache handelt es sich, eure Interessen stehen dort auf dem Spiel.
Mit Philipp Fritzsches Installation „...Wer will fleißige Handwerker sehen…?!“ traten tüchtige Arbeiter in Form von mechanisch angetriebenen, marionettenhaften Figuren auf. Mit den sinnlos Sand schaufelnden Arbeitern, die an eine Maschine, beinahe an ein Spielzeug erinnern, wurden Themen wie die Sinnlosigkeit der vom Staat durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen „initiierten Arbeit“, aber auch die Monotonie der Arbeit in der Massenproduktion angesprochen.
Sechs zeichnerische Arbeiten thematisierten die größtenteils verloren gegangene Präsenz der Tagebau-Großgeräte und ihrer Bediener im mitteldeutschen Raum. Matthias Seifert (Chemnitz/Weimar) besuchte Orte, in denen die Geräte noch vorhanden sind, nun jedoch funktionslos und rostend in Erscheinung treten. Die gelebte Vergangenheit von Maschine und Mensch war spürbar und in vielen Details sichtbar, wie den abgetretenen Stufen oder den zerfallenen Gardinen. Welches Schicksal hat die Bediener der Maschinen nach dem Wegfall ihrer jahrzehntelangen, lebensprägenden Arbeit im Tagebau ereilt, während die Geräte auf ihren natürlichen Verfall warten?
Seifert besuchte ehemalige Baggerführer, um sich ein Bild von den Menschen zu machen, die im Einzugsgebiet des Tagebaus ihre Aufgabe fanden: „Der Baggerfahrer bedient sich zur Identitätsfindung seiner Maschine, die ihn an Kraft und Ausdauer bei weitem überragt. Zwischen beiden findet eine Symbiose statt, die in dem Moment verheerend wird, in dem der Bediener seinen stärkeren Teil durch äußere Umstände verliert.“ Der Baggerfahrer liebt seine Maschine, er ist ihr Herr. Jedoch ist seine Präsenz im Vergleich zur Maschine nicht wahrnehmbar. Seine Persönlichkeit verschwindet in ihr– was er aber nicht merkt, solange er sie noch kontrolliert. Diesen Moment der ausnahmslosen Kontrolle hat Seifert in seinen Bildern thematisiert. Sie tritt verbal als Sprechblase in Erscheinung („Um den störungsfreien Ablauf zu gewährleisten, muss bei jedem Schichtwechsel eine Liste mit 15 Punkten kontrolliert werden. Ich vergleiche das immer mit einem Flugzeug, die Piloten haben auch so einen Koffer, wo alle Bestimmungen drin stehen.“) Jedoch bleibt ihr Verkünder unsichtbar. Er ist mit der Maschine eins geworden, sie hat ihn in ihrem Schatten verschwinden lassen.
Ausführliche Informationen
vierzehn Nr. 3
„Xtreme Houses / Schichtwechsel“, 2004 (1,7 mb)
Zeitung zur Ausstellung „Xtreme Houses“ und „Schichtwechsel“ im Sommer 2004 in der HALLE 14 mit Texten und zahlreichen Abbildung zu allen vertretenen KünstlerInnen und–gruppen und einem Artikel zu den Kriegs-, Revolutions- und Inflationsjahren der Leipziger Baumwollspinnerei.
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