Harald Szeemann - Museum der Obsessionen
Gastbeitrag von Tamara Reitz, #2/2018
Phillips, Glenn [u.a.] (Hgg.): Harald Szeemann. Museum der Obsessionen, 1. Aufl., Scheidegger & Spiess 2018.
Dem Lebenswerk des Kurators Harald Szeemann widmet sich diese umfangreiche Publikation. Insbesondere als künstlerischer Leiter großer Kunstfestivals, wie der »documenta 5« (1972) in Kassel und der Biennale in Venedig (1999, 2001) prägte Szeemann die Kunst des 20. Jahrhunderts maßgeblich.
Das Buch präsentiert die Forschungsergebnisse des Getty Research Institutes in Los Angeles, welches den einmaligen und umfangreichen Nachlass des einflussreichen Kurators nach dessen Tod im Jahr 2005 erwarb und aufarbeitete. Entstanden ist der Katalog und eine gleichnamige Ausstellung, die in Bern, Düsseldorf, Turin und New York zu sehen war.
Ausstellung und Publikation wollen Szeemanns Wirken in der Kunst erfassen. Leben und Karriere werden dabei als »lose miteinander verbundene(r) thematische(r) Interessen« und nicht als »zielgerichtet(en) und linear(en)« erfasst. Hervorgehoben werden vier Abschnitte: Avantgarden, Utopien, Visionäre und Geografien, nach denen sich auch die Tafelteile des Bandes gliedern.
Neben den umfangreichen Bildtafeln von Fotos und Dokumenten des Szeemann-Archivs, versammelt die Publikation Interviews mit Kollegen, Wegbegleitern und Künstlern, sowie Texte einschlägiger Autoren.
Künstlerkontakte (»Utopien«, »Visionäre«)
Der Katalog beinhaltet eine Reihe von Korrespondenzen mit Künstlern, die von Szeemanns intensiver Vernetzung in der Kunstszene seiner Zeit zeugen. Beispielhaft sei hier ein intimer Brief der Künstlerin Meret Oppenheim an den Kurator genannt, indem sie sich bezüglich der Ausstellung »Junggesellenmaschinen« (1975) an den Kurator wendet. (S.162f.) Anlass ist ihre Unzufriedenheit mit der Tatsache, dass ihr Ausstellungsobjekt in der Abteilung »femme fatale« gezeigt wird. Im Brief bestreitet sie eine Identifikation mit diesem Frauenbild, spricht über ihre Erfahrungen mit Männern und ihre Position zum Thema Kinderkriegen. Die Gleichsetzung mit dem Bild der »femme fatale« empfand die Künstlerin als starke Beleidigung.
Ein weiterer Künstler mit dem Szeemann engen Kontakt pflegte ist der Künstler Christo. Im Interview berichtet er, wie er den Ausstellungsmacher »Harry« kennenlernte, über die gemeinsamen Projekte und gibt einige unterhaltsame Anekdoten preis (S.27ff.)
Geografien
Der Abschnitt »Geografien« widmet sich sowohl Szeemanns Interesse an regionalen und nationalen Identitäten, als auch seiner Auseinandersetzung mit der Globalisierung, die sich nicht zuletzt in seiner Tätigkeit als Leiter zahlreicher internationaler Biennale-Projekte ausdrückt.
Großväter
Besonders interessant fand ich die Informationen zur Ausstellung »Großvater: Ein Pionier wie wir« (1974). Einer bisher weitestgehend unbeachteten und sehr persönlichen Schau Szeemanns, in der er sich kurz nach seiner Leitung der »documenta 5« mit dem Leben seines Großvaters auseinandersetzt. Étienne Szeemann war ein prominenter, in Ungarn geborener Friseur. Die kleine Ausstellung umfasste etwa 1200 persönliche Objekte des Großvaters und fand in Harald Szeemanns letzter Berner Wohnung statt.
Harald Szeemann war bestrebt »verschiedene Zeitschienen der Kunst des 20. Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit zu erfassen und zu verstehen; immer mit dem Ziel, kreative, geistige und künstlerische Innovationen aufzuspüren und ans Licht zu bringen.« (S.7)
Der Buchtitel »Museum der Obsessionen« ist nicht nur der Bezeichnung des Kurators für sein persönliches Labor und Lager für experimentelles Ausstellungsmachen entlehnt, sondern soll auch auf seine revolutionäre Haltung gegenüber dem bis dahin weitestgehend konservativen Kunst- und Museumsbetrieb anspielen.
Wer einen innovativen und visionären Blick in die Kunstgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ins Leben eines legendären Kurators werfen möchte, dem sei diese fundierte und inspirierende Publikation ans Herz gelegt!
Phillips, Glenn [u.a.] (Hgg.): Harald Szeemann.Museum der Obsessionen, 1. Aufl., Scheidegger & Spiess 2018.
Tamara Reitz ist Studentin der Kunstgeschichte an der Universität Leipzig.